„Umgang mit Fehlern“ - FIFA und Bundesliga- Schiedsrichter Sascha Stegemann referierte in Alfeld

Auf Einladung des Industrieverein Alfeld (IVA) hat FIFA-Schiedsrichter Sascha Stegemann aus Niederkassel in der Leinestadt sein Debüt gehalten und glänzte mit seinem Referat  „Umgang mit Fehlern – den eigenen , aber auch denen im Team“ und kam beim Publikum in den Räumlichkeiten des UNESCO-Welterbes, dem Fagus-Werk in Alfeld, sehr gut an. Die Zuhörenden kamen aus den Reihen der IVA- Mitgliedern, aus der Politik und Wirtschaft sowie einer Garnison von Schiedsrichtern aus dem Kreis Hildesheim. Das Interesse beim Neujahrsempfang zum 135. Jubiläumsjahr des IVA war groß und die Vorsitzende des Industrievereins, Frau Anke Hoefer-Deiters, begrüßte ihre „Gäste“ recht herzlich und verlor auch einige warmherzige Worte an die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, dessen ehrenamtliche Tätigkeit sie sehr wertschätzt. Alfelds Bürgermeister Bernd Beushausen brachte seine Grußworte der Stadt und überließ Gast-Redner Sascha Stegemann das Wort und er überraschte mit seinem Eingangssatz:

„Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit in Wirklichkeit wirklich?“

Augenzwinkernd testete Stegemann die Wahrnehmung der Anwesenden mit einem  bekannten Zahnpasta-Produktfoto und deren leicht irreführenden Bilder, worauf man sich denn visuell orientiere, und stellt fest, dass die Wahrnehmung hochgradig subjektiv und selektiv ist und somit begann seine Geschichte.

Was war passiert?

Es sollte für den heute 40-jährigen Schiedsrichter Stegemann der 130. Spieleinsatz beim Bundesligaspiel zwischen den VfL Bochum und den BVB Borussia Dortmund sein. Schließlich konnten die Dortmunder  in der Saison 2022/2023 beim 30. Spieltag die Deutsche Meisterschaft nach 2012 wieder aus eigener Kraft fast klarmachen, wenn nicht die 65. Spielminute wäre, als Bochums Soares im Stande von 1:1  den Dortmunder Adeyemi im Bochumer Strafraum scheinbar unsanft gelegt hätte und zum Überdruss der ersehnte Pfiff des Unparteiischen ausblieb. Dieser fehlende Pfiff wurde für Stegemann zum Verhängnis und später mit Morddrohungen belegt und führte in ihm zudem zu Selbstzweifel, obwohl er der Sache ziemlich sicher war, dass Adeyemi den „Kontakt gesucht habe“- so Stegemann.

Denn: Im Frühjahr 2023 wurde auf der Schiedsrichtertagung über genau diese Thematiken der Wahrnehmungen sowie der daraus resultierenden, gängigen Praxis der Spieler kontinuierlich unter die Lupe genommen. Spieler suchen in kritischen Bereichen einen vermeintlichen Kontakt, um einen Vorteil daraus zu schlagen und auch hier war Stegemann sich der Sache sehr sicher! Im laufenden Spiel wurde auch diese Situation im VAR-Keller geprüft als Resultat kam aus dem VAR-Raum ein „Check completed“, das besagt, dass die Situation geprüft wurde und der Schiedsrichter mit seiner Entscheidung richtig lag und das Spiel folgerichtig fortführte. Selbst ein enormer Protest der Protagonisten auf dem Spielfeld konnte Stegemann nicht wahrnehmen und dies bekräftigte somit seine Entscheidung: Kein Strafstoß!

Nach dem Spiel sah er sich die Fernsehbilder selbst nochmal an und stellte bei näherer Betrachtung fest, dass er doch nicht „richtig“ mit seiner Entscheidung lag.  Die ersten „Shitstorms“ aus allen Kanälen treten gegen ihn los.

„Oh mein Gott, sie zerreißen dich“

Sascha Stegemann erhielt von seiner Ehefrau per Kurznachricht „Oh mein Gott, sie zerreißen dich“, als er kurz nach dem Spiel nach seinem Handy griff und starrte die Decke an und zum Boden… zur Decke…zum Boden! Er nahm diese Eindrücke mit nach Hause und telefonierte unterwegs mit Weggefährten und diese empfahlen ihn, dass er sich der Sache stellen sollte. Aber wie? Nach einer sehr kurzen Nacht stand die Polizei vor der Tür und überbrachte die Mitteilung, dass konkrete Morddrohungen gegen ihn und seiner Familie bekannt seien und deshalb die Familie einen vierwöchigen Polizeischutz bekäme. Sein damals dreijähriger Sohn bangte um seinen Vater, als dieser die Polizeibeamten sah und fragte seinen Vater, was geschehen sei: „Papa hatte Ärger auf der Arbeit gehabt“ so Stegemann weiter und beruhigte seinen Sprössling. Umhertreibende Gedanken sowie schlaflose Nächte haben Ihm Angst und Bange gemacht, was jetzt mit seiner jungen Familie passieren würde.

Ist es das noch alles wert?

Traumatisiert holte Stegemann sich Rat und Hilfe aus seinem engeren Umfeld und Weggefährten. Darunter war Schiedsrichter- Kollege Deniz Aytekin aus der Bundesliga. Aytekin legte Stegemann nahe, dass zur Bewältigung dieses menschliche Wahrnehmungsfehlers jetzt nur Transparenz zur Sache die beste Lösung sei und Stegemann sich stellen sollte und seine Sichtweise klarstellen muss. Unter Polizeischutz fuhr Stegemann zu einer sonntäglichen Sport-Livesendung nach München und räumte seinen Fehler öffentlich ein und stand offen für Auskünfte bereit. Seinen VAR im „Kölner Keller“ verteidigte Stegemann und mahnt, dass das auch nur Menschen sitzen, die naturgemäß Fehler machen. „Kein Mensch sei fehlerfrei“- entgegnete er den Fragenden Journalisten und fuhr fort: „Die hohe Erwartungshaltung an uns selbst verhindert die wirkliche Wahrnehmung, fehlerfrei zu agieren“. Nach dem Interview legte Stegemann eine Auszeit ein, da eine Frage ihn beschäftige: „Ist es das noch alles wert?“ - Heute wisse er: Ja, das ist es!

Denn seine Leidenschaft sei nach wie vor der Fußball. Doch um derartige Zeiten zu überstehen, sei es wichtig, sein Leben auf weitere Säulen aufzubauen und Hilfe zu suchen, wenn es nötig wird. „Wir können Vergangenes nicht ändern, aber wir haben Einfluss darauf, wie wir mit so einer Situation umgehen.“ Und diese Situation sei eine gewesen, die ihn persönlich im Leben weitergebracht habe, denn: „Wachstum findet immer da statt, wo es unbequem wird, nämlich außerhalb der Komfortzone.“ Nach langem und tosendem Applaus stellte sich der 40-jährige nach seinem Vortrag einigen Fragen aus dem Publikum und verriet, dass die Borussia aus Dortmund nach Bekanntwerden der  Morddrohungen sich sofort distanzierte und dies scharf verurteilte und lobte das Verhalten seitens des Vereins. Vom DFB konnte Sascha Stegemann ebenso Unterstützung erfahren und stand einige Zeit nach seiner Auszeit wieder als Unparteiischer auf dem Platz.  Auf die Frage, was er von der Lautsprecherdurchsage nach einer VAR-Prüfung halte, antwortete er:  „Man muss mit der Zeit gehen, und es ist eine Möglichkeit, mehr von der geforderten Transparenz zu schaffen.“


Autor: Miguel Rey Lamas